Bedeutet mehr Erhaltung weniger Sicherheit?

Bauwerke sind erfolgreiche Erzeugnisse. Leider ist deren Errichtung mit erheblichen CO2-Emissionen verbunden. Daher favorisiert man heute die Erhaltung gegenüber dem Neubau. Bauwerke zeigen indes eine Alterung. Wird also durch die Bauwerkserhaltung die Bauwerkssicherheit abnehmen?

Vorteile von Bauwerken

Bauwerke zählen zu den erfolgreichsten technischen Erzeugnissen aller Zeiten, u.a. hinsichtlich der Anzahl, der Lebensdauer, des Wertspeicherungsvermögens und auch der Sicherheit. Schätzungen zum Bestand gehen von bis zu zwei Milliarden Bauwerken aus. Diese Bauten erreichen häufig Nutzungsdauern von einem Jahrhundert, gelegentlich sogar von einem oder wenigen Jahrtausenden. Bauwerke speichern Sachwerte in der Grössenordnung des mehrfachen jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Die Risikowerte liegen deutlich unterhalb der meisten technischen und natürlichen Risiken. Anforderungen an die Sicherheit von Bauwerken finden sich bereits in frühesten Gesetzessammlungen z. B. im Codex Hammurabi von vor ca. 4000 Jahren (Bild 1).

Ausserdem zählt die UNO das Recht auf eine Unterkunft zu den menschlichen Grundrechten. Der Schutz vor Umwelteinflüssen ist nicht nur eine Frage der Sicherheit, sondern auch eine Frage der Lebensqualität.

Nachteile von Bauwerken und Fragestellung

Bauwerke besitzen auch Nachteile. Sie sind neben der Landwirtschaft Hauptursache für die menschengemachte Veränderung der festen Erdoberfläche. Die Masse aller Bauwerke übersteigt heute die Kohlenstoffmasse aller Bäume. Die Stahl- und Zementindustrie trägt massgeblich zur menschengemachten CO2-Produktion und damit zur Veränderung der Atmosphäre und des Klimas bei.

Zwecks verbesserter Nachhaltigkeit wird daher heute die Bauwerkserhaltung propagiert: Die Zukunft des Bauens liegt im Bestand.

Bestehende Bauten unterliegen allerdings sowohl einer Alterung durch die Veränderung der Baustoffeigenschaften, also z.B. der Stahlkorrosion, als auch einer konzeptionellen Alterung – der Differenz zwischen Wissensstand zum Errichtungszeitpunkt und demjenigen von heute. Beide Alterungsformen beeinflussen die Sicherheit bestehender Bauwerke. Wenn also im Rahmen der Dekarbonisierung der Bauwirtschaft die Neuerrichtung von Bauwerken eingeschränkt und der Bauwerksbestand an längere und veränderte Nutzungsbedingungen angepasst werden soll, stellt sich berechtigterweise die Frage, ob die Sicherheit von Bauwerken abnehmen wird.

Beantwortung der Frage

Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, weil neben den Bauwerkseinstürzen im hohen Alter ein wesentlicher Anteil der Bauwerkseinstürze während oder kurz nach der Errichtung erfolgt. Dies entspricht dem Versagenskonzept der Badewannenkurve, wie man es z.B. für Brücken in Bild 2 sehen kann.

Wenn also nur wenige Neubauten erfolgen, wird der Anteil der frühen Bauwerkseinstürze sinken. Auf der anderen Seite wird der Anteil der Einstürze im höheren Bauwerksalter zu einem späteren Zeitpunkt steigen. Die Frage ist hier, ob und wie die Bauingenieur*innen mit diesem Anteil umgehen.

Aus Sicht der Bauingenieur*innen ist der Umgang mit bestehenden Bauwerken deutlich ambitionierter als Neubauplanungen. Die Nutzung verschiedener Baustoffe im Laufe des Lebens eines Bauwerks, unvollständige Dokumentationen, erhöhte normative Anforderungen, z.B. im Bereich Brandschutz oder Erdbebensicherheit sowie Bauwerksschäden sorgen für eine hoch komplizierte Aufgabenstellung mit vielfältigen Rahmenbedingungen und Lösungseinschränkungen. Bild 3 verdeutlicht dies für ein Kraftfahrzeug.

«Versteckte Sicherheit»

Aktuelle, an der Berner Fachhochschule BFH durchgeführte Studien zeigen jedoch, dass Bauwerke im Durchschnitt eine beachtliche Tragfähigkeitsreserve besitzen, die bei der Bewertung und der Umnutzungsplanung bestehender Bauwerke aktiviert werden kann. Diese Sicherheitsreserven werden gelegentlich als «versteckte Sicherheit» bezeichnet. Der Medianwert (statistischer zentraler Schätzer) der «versteckten Sicherheit» über alle Bauwerksklassen – hier unterscheidet man z.B. Brücken, Tunnel oder Gebäude – ergibt einen Wert von ca. 2. Versteht man die üblichen Sicherheitsfaktoren als «bekannte Sicherheit», so ergibt sich aus beiden eine «realistische Sicherheit». Diese würde z.B. bei Stahlbetonkonstruktionen mit einem Sicherheitsfaktor von ca. 2 bei 4 liegen. Die realistische Versagenslast der Konstruktion liegt also viermal über der zulässigen charakteristischen Nutzlast.

Von den ca. 2,5 Millionen Bauwerken in der Schweiz sind etwa 15 Prozent älter als 100 Jahre. Die SBB verfügen über 1300 Brücken, die älter als 100 Jahre sind. Durch die Aktivierung der Sicherheitsreserve kann man diese Bauwerke bis auf wenige Ausnahmen erhalten.

Die an der BFH durchgeführte Studie zeigt auch, dass diese «versteckte Sicherheit» für die frühen Kernkraftwerke nicht vorlag. Sie tritt also nicht zwangsläufig auf.

Big Picture 

Die hier behandelte Fragestellung taucht in der Sicherheitsliteratur immer wieder im Zusammenhang damit auf, dass eine neue Schutzmassnahme zu neuen Gefährdungen führt. Im hier beschriebenen Fall errichteten die Menschen Bauwerke zum Schutz vor Umwelteinflüssen. Dabei achteten sie frühzeitig auf die Sicherheit der Bauwerke. Gleichzeitig veränderten sie aber durch die Bauwerke die Umwelt, was zu neuen Gefährdungen führte, in diesem Fall Klimaveränderungen. Daraufhin verändern die Menschen wieder ihre Verhaltensweise bei der Errichtung der Bauwerke und die Frage der Sicherheit tritt erneut auf.

Das Beispiel zeigt auch, dass es das sogenanntes Nullrisiko (Zero Risk), wie es von der Politik häufig gefordert wird, nicht gibt, weil die Massnahmen zur Erreichung des Nullrisikos wieder neue, oft unbekannte Risiken erzeugen. Es ist wie in Grimms Märchen «Der Hase und der Igel»: Egal wie schnell der Hase (die Schutzmassnahme) ist, der Igel (die Gefährdung) ist jeweils schon da.

Dr. Dirk Proske
Professor für Risikomanagement, Studiengangleiter MSE Civil Engineering, BFH