«Driving Next Level» – der «Matte-Schnägg», das fahrerlose Fahrzeug auf dem Textgelände in Vauffelin. (Bild: BFH)

«Im täglichen Pendelverkehr gibt man das Steuer gerne aus der Hand»

Seit Jahren verspricht die Autoindustrie, dass das Zeitalter der selbstfahrenden Autos nicht mehr fern sei. Peter Affolter und Raphael Murri von der BFH erläutern den Stand der Entwicklung und blicken in die Zukunft der Mobilität.

Wo stehen wir heute auf dem Weg zum fahrerlosen Auto?

Peter Affolter: Wir bewegen uns im Bereich Level 2 plus (vgl. Kasten). Der Tesla mit Self-Driving-Funktion fährt schon recht selbstständig, aber ein Mensch behält die Verantwortung und die Hände am Steuer. Neu gibt es Modelle von Mercedes, die unter bestimmten Bedingungen auf wenigen Autobahnabschnitten in Deutschland den Level-3-Modus zulassen – bei höchstens 130 km/h und ohne Spurwechsel.

Wo liegen die Hürden auf dem Weg zur Automatisierung?

Raphael Murri: Heute ist automatisiertes Fahren bei tiefer Geschwindigkeit möglich oder unter einfachen Bedingungen wie im Kolonnenverkehr auf Strassen ohne Fussgänger*innen, Gegen- oder Querverkehr. Bei erschwerten Verhältnissen kommen die Systeme aber an ihre Grenzen. Ein anderer Punkt ist die rechtliche Lage: Das internationale Strassenverkehrsrecht schreibt vor, dass jederzeit ein Mensch das Fahrzeug beherrschen muss. Zudem sind Zulassungskriterien für die Inverkehrsetzung von selbstfahrenden Autos erst in Entstehung.

Autonome Fahrzeuge müssen riesige Datenmengen verarbeiten. Ein Problem?

Murri: Wenn sich das Fahrzeug im Level 5 in allen Situationen selbstständig bewegen soll, ist die korrekte Interpretation der Menge an Daten praktisch nicht zu bewältigen.

Affolter: Für das fahrerlose Fahren muss man eine fahrende Person virtuell nachbilden – wie sie die Umgebung erfasst, vorausplant und dem Fahrzeug Befehle erteilt. Als Augenersatz gibt es gut funktionierende Sensortechniken mit Laser, Radar und Kameras. Die Herausforderung liegt darin, Bilder richtig zu deuten und Situationen zu verstehen. Daran arbeiten die Forschenden momentan intensiv. Heute braucht es jedoch immer noch einen Menschen, der notfalls eingreift. Der Verzicht auf diese Rückfallebene erfordert ein sehr robustes System.

Ist das Hirn dem Computer also doch überlegen?

Murri: Nein, ein System mit ausreichend Rechenleistung kann die Umgebung – Verkehrsschilder, Fahrzeuge, Personen – zuverlässiger erfassen als ein Mensch. Zudem trinkt der Computer keinen Alkohol, wird nicht müde oder krank. Ein technisches System senkt die Wahrscheinlichkeit von Unfällen.

«Die Herausforderung liegt darin, Bilder richtig zu deuten und situationen zu verstehen.»

Raphael Murri

Trotzdem gibt es grosse Bedenken wegen technischer Risiken. Zu Recht?

Murri: Solche Systeme stehen sehr im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, und Unfälle wegen technischer Fehlfunktionen erhalten viel Aufmerksamkeit. Aber wenn einmal zugelassene Modelle auf dem Markt sind, die zuverlässig funktionieren, werden wir alle den Knopf «Automatisiertes Fahren» drücken.

Affolter: Das Auto ist ein emotionales Objekt. Schöne Gefühle wie beim Befahren einer Passstrasse ohne Verkehr stellen sich aber selten ein. Im täglichen Pendelverkehr und Stau wird man das Steuer gerne aus der Hand geben und sich mit anderem beschäftigen.

… und sich einem hochkomplexen System ausliefern, das auch Fehler machen kann?

Affolter: Auch der Mensch ist fehleranfällig, beeinflussbar und verletzlich. Den Unzulänglichkeiten der Technik kann man durch Redundanz der Komponenten und durch Selbstprüfungsmechanismen Rechnung tragen. Level 3 ist insofern problematisch, als dass noch eine lenkende Person als Back-up in heiklen Situationen benötigt wird: Was passiert, wenn sie zu spät oder falsch reagiert? Die Hersteller würden lieber gleich auf Level 4 gehen und die Verantwortung ganz übernehmen.

Treiber der Entwicklung sind die grossen Autohersteller, etwa in den USA und in Deutschland. Steht die Schweiz abseits?

Murri: Das ist so, was die Entwicklung von Gesamtsystemen betrifft. Hingegen sind wir bei Schlüsseltechnologien – etwa im Bereich Robotik und maschinelles Lernen – sehr wohl am Puls der Zeit.

Welchen Beitrag kann die BFH leisten?

Affolter: Unsere erste Aufgabe ist die Lehre und Ausbildung. Wir bringen die neuen Technologien den Studierenden näher, damit sie diese realistisch beurteilen und einsetzen können. Man darf nicht vergessen, dass es auch in der Schweiz Fahrzeughersteller gibt, insbesondere im Bereich Landwirtschaft oder Kommunaltechnik (zum Beispiel Fahrzeuge für die Strassenreinigung). Für solche Fahrzeuge sucht man nach Möglichkeiten, gewisse Aufgaben automatisch zu verrichten. Dafür gibt es keine Produkte aus dem Regal, es braucht anwendungsorientierte Entwicklung. Hier leistet die BFH ihren Beitrag.

Gibt es konkrete Beispiele?

Affolter: Wir waren an der Entwicklung eines Mähtraktors zum fahrerlosen Einsatz in gefährlichem Gelände beteiligt. Derzeit beschäftigen wir uns mit den Bedürfnissen des automatisierten Personentransports auf der «letzten Meile» des öffentlichen Verkehrs. Auch im Bereich Logistik – Stichwort Paketroboter – sind wir tätig.

Die SAE-Level der Fahrzeugautomatisierung

Level 0: Keine Automatisierung.

Level 1: Assistiert. Tempomat und Spurhalteassistent übernehmen einzelne Funktionen.

Level 2: Teilautomatisiert durch Kombination von Assistenzsystemen wie Tempomat, Spurhalteassistent, Parkassistent, Stauassistent.

Level 3: Bedingt automatisiert. Unter gewissen Bedingungen übernimmt das Fahrzeug die Verantwortung, kann sie aber jederzeit wieder abgeben.

Level 4: Hochautomatisiert. Unter gewissen Bedingungen (zum Beispiel geografisch eingeschränkt) fährt das Fahrzeug komplett selbstständig. Beispiele: «Matte-Schnägg» in Bern, «Smart-Shuttle» der Postauto AG in Sitten.

Level 5: Vollautomatisiert. Das Fahrzeug fährt jederzeit ohne menschliche Intervention.

Peter Affolter
Fachbereichsleiter Automobil- und Fahrzeugtechnik, BFH
Raphael Murri
Leiter Institut für Energie- und Mobilitätsforschung IEM, BFH