
Klimagerechte Stadt und Architektur: hier und jetzt
Die Auswirkungen des Klimawandels gehören zu den grössten Herausforderungen unserer Zeit. 40 Prozent des natürlichen Ressourcenverbrauchs, 40 Prozent des Energieaufwands und 50 Prozent der Abfallerzeugung fallen weltweit in der Bauindustrie an.1 Dies verdeutlicht die gesellschaftspolitische Verantwortung, die Architekt*innen, Planer*innen, Unternehmer*innen wahrnehmen müssen, um ebenso umsichtige wie radikale Szenarien zu denken und konkret in nachhaltigen architektonischen und städtebaulichen Projekten umzusetzen. Zehn Schritte auf dem Weg zu einem klimagerechten Lebensraum.
01 > Global Goals: nachhaltige Entwicklung konkret umsetzen
Von den 17 globalen Zielen einer nachhaltigen Entwicklung, die in der Agenda 20302 zusammengefasst sind, betreffen viele den Wirkungskreis des Bauens sehr direkt. Deshalb gilt auch hier: «Think global – act local.»
02 > «Learning from»: vernakuläre Prinzipien neu interpretieren
Studien von vernakulären Bauten (Bauten, die über Generationen aus den lokalen Bedürfnissen und Gegebenheiten eines Orts entwickelt wurden) zeigen immer wieder faszinierende Prinzipien auf, die als Inspirationsquelle für neue Bauten dienen können. Dabei verdeutlichen Forschungen aus dem Alpenraum und dem Himalaja3, wie ähnliche geografische und klimatische Bedingungen entsprechende Behausungen mit vergleichbaren Prinzipien hervorbringen. Der Neubau der Jugendherberge Gstaad-Saanenland von 20144 interpretiert traditionelle Elemente der Architektur des Berner Oberlands neu – Steinsockel, Holzkonstruktion, vertikale Fensterbänder, grosses schützendes Vordach – und verleiht diesen eine heute aktuelle Bedeutung: mit einem starken Bezug zum Ort, zur Nutzung natürlicher Ressourcen und erneuerbarer Energien und zur gestalterischen Interpretation des Vordachs, auch als Geste der Gastfreundschaft.

03 > Genius loci: spezifische Orte stärken
Genius loci, der Geist des Orts, bildet einen integralen Aspekt, sowohl des vernakulären Bauens als auch eines jeden klimagerechten Entwurfsansatzes, und vernetzt dabei kulturelle, landschaftliche und klimatische Aspekte. Mit dem Erweiterungsbau der Lämmerenhütte SAC5 wird auf die im Alpenraum bereits deutlich sichtbare Klimaveränderung reagiert. Autarkie durch erneuerbare Energien sowie bauliche Schutzmassnahmen gegen sich häufende Naturgefahren wirken sich direkt auf die Gebäudetypologie aus. Wie auf 2500 m ü.M. lässt sich dies auch auf 550 m ü.M. feststellen: Mit der Rückführung auf die traditionelle Hoftypologie der Berner Altstadt gelingt es an der Spitalgasse 22 in Bern6, Innenhöfe zu begrünen und ein für das unmittelbare Wohn- und Arbeitsumfeld günstiges Mikroklima zu schaffen, das das Stadtklima positiv beeinflusst.

04 > Global – lokal: Vielfalt erkennen und nutzen
Auch wenn globale Vernetzungen heute lokale Eigenheiten bedrängen, werden Nähe sowie Nachbarschaften und vielleicht auch die Vielfalt (bau)kultureller Werte neu entdeckt. Gerade Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, demografischer Wandel und Migration sowie Klimawandel verlangen differenzierte Strategien in der Raumentwicklung.
05 > Stadt: vom Freiraum aus neu denken
Städte und Dörfer wachsen heute in der Schweiz aufgrund planerischer Zielsetzungen vor allem nach innen. Der Freiraum wird zu einer bestimmenden Komponente im Entwurf und hinterfragt die traditionelle gebäudeorientierte Sicht. Bezüge zwischen Aussen-, Zwischen- und Innenraum erhalten neue Bedeutungen und eröffnen interessante klimaaktive Spielräume. In Zürich bilden Erkenntnisse aus der Fachplanung Hitzeminderung7 zukunftsgerichtete Planungsgrundlagen und konkrete Handlungsansätze für den gesamten Stadtraum. In Bern schaffen kluge Rahmenbedingungen bei Wettbewerben – zum Beispiel für das Viererfeld/Mittelfeld8 – die Voraussetzungen für eine nachhaltige Quartierentwicklung mit vernetzten Freiräumen und klimagerechten Gebäudetypen.
06 > Ensemble: Massstabsebenen verbinden
Klimagerechtes Bauen sucht einen integralen Ansatz auch bezüglich der verschiedenen Massstabsebenen: Erst das Zusammenspiel von Territorium, Stadt/Dorf, Areal/Ensemble, Gebäude, Material/Konstruktion und Bauelement wirkt sinnstiftend.
07 > Haus: in Kreisläufen wirtschaften
In Kreisläufen denken und wirtschaften, eine über Jahrhunderte erfolgreiche Strategie, rückt allmählich wieder ins Bewusstsein. «Abfall» wird als Ressource wiederentdeckt. Re-Use, Recycling und Upcycling als architektonische Gestaltungsprinzipien schaffen es von Nischenthemen zu ernsthaften Konzepten mit hohem Potenzial. Umnutzen und Weiterbauen im Bestand wird zum Normalfall. Neu bauen braucht starke Argumente und alternative Ziele, wie «Less is more – less creates more»: weniger Ressourcen (Stadtraum, Wohnraum, Material), weniger Klimabelastung, weniger Energie, weniger Kosten, dafür mehr gelebte Nachbarschaft, mehr Kreislaufwirtschaft, mehr gesundes Stadtklima. Das Maison Climat am Seelandweg in Biel9 gelingt der Spagat zwischen Komfort und Suffizienz, zwischen hohem Energiestandard und kostengünstigen Mietwohnungen, und es erreicht durch die ökonomisch gestalteten Grundrisse einen grossen Mehrwert in der Personendichte und der Wohnqualität.
08 > Element: mit Luft, Licht, Sonne und Schatten planen
Licht, Luft, Sonne als wichtige Prämissen der Moderne bedürfen einer Ergänzung: Schatten. Sommerlicher Wärmeschutz stellt sowohl im Freiraum als auch im Gebäude neue Herausforderungen, die jedoch auch interessantes gestalterisches Potenzial bieten, zum Beispiel mit klimaaktiven Zonen.
09 > Material: klimagerecht – zum Beispiel mit Holz – konstruieren
Klimagerechtes Planen und Bauen wird an der BFH gelehrt und erforscht. So beschäftigen sich in der Architektur erfreulich viele Master-Thesen integral mit der Thematik. Die Ressource Holz spielt dabei eine Schlüsselrolle in den Projekten, die zukunftsfähige Szenarien aufzeigen. Aktuelle Beispiele mit dem Schwerpunkt Architektur und Holz sind die Arealentwicklung Tramdepot Eigerplatz in Bern10 sowie der Masterplan und das Architekturprojekt mit Einbezug des urbanen Mikroklimas an der Badenerstrasse in Zürich11.
10 > … hier und vor allem jetzt: klimagerecht planen und bauen
Die zehn Schritte zeigen: Wirkungsvolle Wege zum Klimaschutz und konkrete Massnahmen zur Klimaanpassung gibt es viele. Es gilt, diese in Lehre, Forschung und Praxis umzusetzen – hier und jetzt.
Dieser Text beruht auf dem Referat von Hanspeter Bürgi vom 27. Mai 2021 anlässlich des Holzbautag Biel.
Das Referat ist als Livestream:
1 BAFU, 2021, www.bafu.admin.ch
2Agenda 2030 – Global Goals – 17 Ziele einer nachhaltigen Entwicklung, www.eda-admin.ch
3 Hanspeter Bürgi, Sonja Huber: Klima und Komfort: ORT. HSLU, 2013, www.bsarch.ch
4 Jugendherberge Gstaad-Saanenland, Bürgi Schärer Architekten, 2014, www.bsarch.ch
5 Lämmerenhütte SAC, Bürgi Schärer Architekten, 2015, www.bsarch.ch
6 Wohn-/Gewerbehaus Spitalgasse 22, Bern, Bürgi Schärer Architekten, 2008, www.bsarch.ch
7 Stadt Zürich, Fachplanung Hitzeminderung, www.stadt-zuerich.ch
8 Stadt Bern, Wettbewerb Viererfeld/Mittelfeld, www.bsarch.ch
9 Maison Climat, Biel, Bürgi Schärer Architekten, 2021, www.bsarch.ch
10 Master Architektur BFH-AHB, Master-Thesis, Sophie Frank, 2020, www.bfh.ch/de/studium/master/architektur/
11 Master Architektur BFH-AHB, Master-Thesis, Stephanie Stöckli, 2021, www.bfh.ch/de/studium/master/architektur/
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