Kontrastreich, duftend, haptisch – Architektur für alle Sinne

Wie soll die gebaute Umwelt aussehen, wenn Sinne beeinträchtigt sind oder überhaupt nicht funktionieren? Wie müssen Räume, Häuser geplant sein, damit sich Menschen mit und ohne Sinnesbeeinträchtigung orientieren können, sich aufgehoben fühlen? Kontraste, Kanten, Gerüche sorgen für Lebensqualität. Die Schweizerische Stiftung für Taubblinde «Tanne» – ein Beispiel.

Schliessen Sie Ihre Augen und probieren Sie, sich in dem Raum, in dem Sie sich befinden, fortzubewegen. Automatisch werden Sie Ihre Hände ausstrecken, um herauszufinden, auf welchen der anderen Sinne Sie zählen können. Mittels Oberfläche, Temperatur, Geruch und Akustik der Materialien, die in einem Raum vorkommen, lässt sich eine Architektur erahnen, die sich nicht nur auf das Visuelle konzentriert, sondern auch andere Dimensionen der Wahrnehmung anspricht.

Welches ist der wichtigste Sinn?

Man mag darüber diskutieren, welcher der fünf Sinne der bedeutendste ist. Manche plädieren für das Gehör, weil es für die frühkindliche Entwicklung der Fähigkeit zur sozialen Kommunikation so bedeutsam ist. Die meisten Menschen orientieren sich – ob bewusst oder unbewusst – über den Tastsinn. Er ist der erste Sinn, der sich im Mutterleib entwickelt, und der letzte, der vor dem Tod erlischt. 

Unbestritten ist, dass es die Fernsinne sind, die die detailreichsten Informationen über die Umwelt liefern. Denn durch Hören und Sehen orientiert sich der Mensch, kann Distanzen einschätzen und Richtungen bestimmen. Schlussendlich helfen alle fünf Sinne - Hören, Sehen, Tasten, Riechen und Schmecken – die Umgebung wahrzunehmen.

Doch was ist, wenn einer oder mehrere dieser wichtigen Sinne beschränkt ist oder überhaupt nicht funktioniert, sprich fehlt? Wie soll dann die gebaute Umwelt aussehen? Wie müssen Zimmer, Häuser und Dörfer geplant werden, in denen sich Menschen mit und ohne Sinnesbeeinträchtigung orientieren sollen?

Beispiel «Tanne», Schweizerische Stiftung für Taubblinde

«Tanne», die Schweizerische Stiftung für Taubblinde, wurde in den 1970er-Jahren gegründet und hat Anfang 2015 einen Architekturwettbewerb für die Erweiterung ihres Kompetenzzentrums ausgeschrieben. Parallel zur Erweiterung entsteht eine integrative Kindertagesstätte für Klein- und Vorschulkinder mit und ohne sonderpädagogische Bedürfnisse.

Die Stiftung baut ihre bestehende Anlage in Langnau a. A. (ZH) – entworfen von Max Baumann & Georges J. Frey Architekten BSA/SIA – aus dem Jahr 1990 um und ergänzt sie mit zwei Neubauten (Architektur: Scheibler & Villard).

Anbindung und Vernetzung: Die durchlässige Anlage ist frei begehbar und lädt dazu ein, das Areal direkt und einfach zu durchqueren. Die zwei Neubauten im Vordergrund stehen so zueinander, dass der Bestand im Hintergrund sichtbar bleibt. Über den mittig angelegten Fussweg gelangt man auf direktem Weg ins Herz der Anlage, in den Schulhof. Von da aus erreicht man die Zugänge zu allen Gebäuden. Trotz der durchlässigen Situation bietet der Schulhof die nötige Geborgenheit und Privatsphäre.

Nutzungskonzept und Lebensfelder: Das Bilden und Abbilden der Lebensfelder ist ein zentrales Anliegen des Projekts. Die Anlage funktioniert wie ein Quartier – mit privaten und öffentlichen Nutzungen. Neben den zwei Wohngebäuden gibt es eine Kita, ein Schulgebäude mit öffentlich zugänglichem Kaffee, ein Büro- und Atelierhaus und eine Wäscherei. Die Gebäude sind jeweils von einer Hauptnutzung geprägt, und man bewegt sich zwischen ihnen via Aussenraum. Dieser ist somit Begegnungszone und das Quartier Tanne wird zu einem belebten Ort.

Konstruktion und Materialisierung: Die statische Struktur der zwei Gebäude zeichnet sich durch einen zentralen Kern in Beton und seitlich angehängte Holzvolumen über drei Geschosse aus. 
Konstruktion und Materialisierung bilden eine kohärente, hybride Gemeinschaft. Dabei steht das Zusammenspiel der Materialien einerseits, die kontrastreiche Wahrnehmung andererseits im Vordergrund. Der Rohbau besteht aus massiven Kernbereichen in Beton und davorgestellten Zimmerschichten in Holzelementbauweise. Diese primäre, konstruktive Gliederung bestimmt gleichzeitig die Materialisierung. In den offenen Bereichen wie Wohnen, Erschliessung usw. werden mineralische Materialien verwendet. Die Zimmer sind dann jeweils in Holz konzipiert, was u.a. auch den Schwingungskontrast erlebbar macht.

Haptische Orientierung: Der Betonkern ist der Bezugspunkt in der Mitte der Gebäude. Die Betonoberfläche des Kerns ist pro Geschoss verschieden ausgeführt, sodass über den Tastsinn erfahrbar wird, auf welchem Geschoss man sich befindet. Für das Relief wurde eine einfache, aber starke Mustersprache entwickelt. Die Wandplatten in den Nasszellen übernehmen dieses Muster, sodass auch über die Fugen eine ertastbare Information übermittelt werden kann. 

…..  die Struktur der Betonoberflächen sind pro Geschoss anders ausgeführt. Die Wandplatten der Nasszellen übernehmen die Muster.  (Rasmus Norlander)

Über den Tastsinn erfahrbar machen ….. 

Kontraste: Ein kontrastreiches Umfeld ist für die Klientinnen und Klienten der Tanne eine wichtige Stütze und hilft ihnen, sich zu orientieren. Hierfür sind Materialkontraste (hart/weich), Oberflächenkontraste (Relief), Farbkontraste (rot/grün) und Hell-Dunkel-Kontraste bewusst eingesetzt. Der Materialkontrast, der auf verschiedenste Weise erfahren werden kann, ist von höchster Bedeutung. Dabei spielen sowohl Haptik als auch Oberflächentemperatur und Geruch der verschiedenen Materialien zentrale Rollen. 

Der haptische Raum

Dass alle Sinne wichtig sind für die Wahrnehmung von Räumen, ist grundsätzlich bekannt. Architektur kann aber auch gezielter darauf eingehen. Scheibler & Villard Architekten versuchen mit ihrer Architektur Kontraste zu schaffen, Sinne anzuregen und vielfältig, aber nicht beliebig zu sein. Im Zentrum steht der Mensch, der diese Räume erlebt und belebt. 

Denn in der heutigen Zeit der Digitalisierung, der Anonymisierung und der Neutralisierung, in der die gesamte Welt auf eine Dimension – den Bildschirm – reduziert wird, droht die Gefahr abzustumpfen. Der Mensch ist darauf angewiesen, dass ihm sein direktes Umfeld – die gebaute Umgebung und alles was sich dazwischen befindet – ermöglicht, seine Sinne zu aktivieren, Reize zu schaffen und Gedanken anzuregen. 

Architektur darf kontrastreich, uneben und kantig sein, denn eine Architektur, die man berühren soll, ist eine Architektur, die möglicherweise mehr berührt und den Körper anspornt, Widerstand zu leisten, was wiederum grossen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden hat.

 

Informationen zum Fachbereich Architektur

Maya Scheibler
Professorin für Konstruktion und Entwurf, BFH