
Kooperieren oder verlieren
Während die Industrie ihre Produktion individualisieren muss, ohne an Automatisierung zu verlieren, muss das Handwerk automatisieren, ohne an Individualität einzubüssen. Ziele und Werkzeuge sind die gleichen, Ausgangslage und Paradigmen unterscheiden sich indes fundamental. Genau hier setzt die Werkstatt der Zukunft an und setzt auf Kooperation.
Die Welt dreht sich um 180 Grad! Früher wandte man sich dem Eiffelturm zu, um ihn zu fotografieren. Das Ergebnis wurde nach der Reise als Erinnerung in ein privates Album geklebt. Heute kehrt man dem Eiffelturm beim Fotografieren den Rücken zu, personalisiert ihn mit dem eigenen Konterfei und stellt das Ergebnis auf der Suche nach Likes sogleich ins Netz. Der Eiffelturm ist der gleiche, sonst ist nichts mehr, wie es war.

Was bedeuten die Veränderungen der Digitalisierung für die Industrie? Vor ziemlich genau zehn Jahren wurde die vierte industrielle Revolution ausgerufen – letztlich nichts anderes als die Vision der Smart Factory, einer selbststeuernden Produktion individualisierter Produkte in Losgrösse 1 zu Kosten einer Massenproduktion. Dabei werden nicht nur Produkte radikal individualisiert, auch die Preise werden flexibel, um die Zahlungsbereitschaft der Kundschaft auszunutzen.
Den Industriebetrieben stehen Zehntausende KMU gegenüber, für die die Individualisierung der Produkte kein Problem darstellt. Sie sind es gewohnt, Einzelanfertigungen herzustellen. Das gilt ganz besonders für die Holzwirtschaft, in der die Massenproduktion auf zusätzliche Herausforderungen trifft. Es gibt zwar industrielle Lösungen für Modulbauten, Türen, Ladeneinrichtungen, Küchen usw. Die Produkte müssen sich meist in einen bestehenden Kontext fügen: in einem denkmalgeschützten Haus wird die Eingangstüre ersetzt, ein bestehendes Mehrfamilienhaus wird aufgestockt, ein Laden in der Altstadt wird neu eingerichtet, in einem Bauernhaus wird die Küche umgebaut. Oft steht das Produkt auch nicht für sich allein, sondern muss sich zusammen mit den Arbeiten anderer Gewerke zu einem Ganzen fügen.
Neue Lösungen gefragt
Für die Holzwirtschaft ist somit nicht die Individualisierung der Produkte und Dienstleistungen die grösste Herausforderung, sondern die Kosten – mitunter auch die Qualität. Für ein Innenausbauunternehmen, das einen Schrank herstellt, ist der blosse Materialeinkauf teurer als der fertige Schrank im Möbelhaus, wo man ihn gleich mitnehmen und zu Hause selbst montieren kann. Es sind also neue Lösungen gefragt. Die digitale Transformation bietet hierfür gute Chancen.
Mögliche Lösungen sind allerdings noch komplexer als in den Smart Factories. Komplex und digital vertragen sich aber schlecht, auch wenn bei der künstlichen Intelligenz schon grosse Fortschritte gemacht wurden. Es geht also darum, komplexe Prozesse zu komplizierten weiterzuentwickeln. Diese können dann digitalisiert oder wenigstens digital unterstützt werden. Die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine wird dabei eine Schlüsselrolle einnehmen.
Werkstatt der Zukunft
Einzelne KMU können strukturell bedingt wenig erreichen. Es braucht Kooperation: Forschende, Studierende, Systemlieferanten und Systembetreiber benötigen eine Plattform für die Zusammenarbeit. Genau das bietet die Werkstatt der Zukunft. Sie ist eine offene und neutrale Lern-, Entwicklungs-, Test- und Demoumgebung der BFH im Originalmassstab. Partner*innen aus angewandter Forschung und Wirtschaft adaptieren und integrieren darin neue Technologien, Konzepte und Methoden. Sie steht auch für Visualisierung und Simulation zur Verfügung. Die Werkstatt der Zukunft entstand aus dem Labor für digitale Fertigung und entwickelt sich durch die Bearbeitung von Anwendungsfällen und insbesondere durch deren Vernetzung permanent weiter.

In einem kürzlich abgeschlossenen Innosuisse-Projekt wurde beispielsweise ein Nachrichtensystem entwickelt, bei dem unterschiedliche Applikationen Statusmeldungen an einen Server übermitteln oder von dort abholen. Dadurch wird es möglich, dass die unterschiedlichen Systeme herstellerunabhängig und ohne individuelle Programmierung Statusinformationen aus den Auftragsprojekten austauschen können.
Ein anderes Projekt (siehe dazu den Artikel von Miro Bannwart «Neue Applikation – Freiformen leicht gemacht» in spirit biel/bienne 2/21) verfolgt die Entwicklung einer flexiblen Lösung, mit der dank Triangulation Freiformen gestaltet und automatisiert hergestellt werden können. Zu der Lösung gehört die Produktentwicklung genauso wie die Entwicklung der Prozesse und der digitalen Werkzeuge. Markt und Einkaufserlebnis aus Kundensicht werden ebenfalls mit betrachtet.
Die Erarbeitung eines Framework für projektbezogene Kooperationen ist ein weiteres Vorhaben. Unternehmen sollen Projekte gemeinsam bearbeiten können. Das können Aufträge oder Beschaffungen sein. Auch die gemeinsame Ausbildung von Lernenden oder die gemeinsame Beschäftigung von Spezialist*innen ist denkbar.
Referenzmodelle unterstützen die Kommunikation und führen zu einem gemeinsamen Verständnis. Bestehende Modelle wie RAMI 4.0 oder IIRA passen für grosse Industrieunternehmen, aber nicht für ein KMU mit 50 Mitarbeitenden. Entsprechend hat die BFH ein neues Modell entwickelt. Mit einer ersten Version wurden zusammen mit Unternehmen bereits Kompetenzprofile erstellt, Prozessschritte und Software-Infrastrukturen visualisiert sowie Studien zu Aufwand und Sparpotenzial in der Datengenese durchgeführt.
Die beschriebenen Beispiele sind ein Auszug aktueller Anwendungsfälle in der Werkstatt der Zukunft der BFH. Weitere Forschungs- und Lehrprojekte sind im Entstehen begriffen. Um auch den Transfer in die Praxis zu fördern, wird aktuell eine Besucherplattform gebaut und ein Multimediasystem integriert. Beides wird an der nächsten Konferenz Holz 4.0 im Zentrum stehen.
Mit der Werkstatt der Zukunft leistet die BFH einen wesentlichen Beitrag, um die regional verankerten Unternehmen zu international wettbewerbsfähigen Wertschöpfungsnetzwerken zu formen. Die technologischen Voraussetzungen in den Unternehmen sind gut, und das verarbeitete Holz ist einheimisch und klimaneutral. Das eröffnet nachhaltige Perspektiven – ökologisch, ökonomisch und sozial.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz