
Mobilität und Urbanität
Bei Fremdwörtern lohnt es sich immer, zuerst das Wörterbuch zu fragen. Mobilis heisst beweglich, aber auch unbeständig, biegsam, lenksam. Mobilitas ist also die Beweglichkeit, die Schnelligkeit, aber auch der Wankelmut. Urbanus heisst städtisch, was zu vermuten war, aber auch fein, gebildet, geistreich witzig, keck, frech.
Urbanitas ist das feine Benehmen. Die mobile Urbanität ist also die geistreiche Beweglichkeit oder die wankelmütige Bildung bzw. Lebensart. Die geistreiche Beweglichkeit ist die kluge. Heute heisst das, die sparsame, jene, die möglichst wenig Energie und Platz verbraucht und kaum Schadstoffe ausstösst. Der Fussgänger zum Beispiel. Der Mensch wird zwar lahm geboren, ist aber zum Gehen bestimmt. Darum ist, wer zu Fuss geht, der wahre Automobile, der Selbstbeweger. Sein Schritt ist fest, sein Fussabdruck minimal. Trotzdem ist er in der Mobilitätsdiskussion vernachlässigbar. Erst wo es Fussgängerstreifen oder Unterführungen braucht, nimmt man ihn zur Kenntnis. Pauvre type! Etwas besser ist der Radfahrer angesehen. Mit einem mechanischen Apparat vergrössert dieser Selbstbeweger seine Reichweite. Le sportif.
Dann kommt es zum grossen Sprung. Seit die Menschen gelernt haben, auf Maschinen zu reiten, gibt es die Fremdbewegten. Seit das Dampfschiff, die Lokomotive und das Automobil erfunden wurden, seit rund 200 Jahren, gibt es Leute, die sich von Kohle, Öl oder Elektrizität transportieren lassen. Da sind zuerst die Passagiere des öffentlichen Verkehrs. Die Pendlerpumpe saugt sie morgens ein und stösst sie abends aus: Métro, boulot, dodo. Es folgen die Automobilisten, jene Fremdbewegten, die sich für autonom halten, behaupten, sie seien Herr über Zeit und Raum. Sie enden im Stau, in einer Zusammenrottung von Unschuldigen. Erst der Stau gebar die Mobilität, vorher redete man über den Verkehr. Trotzdem, erst der Automobilist ist der wahre Mensch, l’homme entier. Bleibt noch der Flieger. Man pfercht ihn in eine Hürde, zieht ihn halbnackt aus, sperrt ihn in eine Angströhre, und trotzdem ist er flugsüchtig. Weil er innert Stunden überall ist. Er ist der Phänotyp der Jetztzeit: le touriste.
So viel zur geistreichen Beweglichkeit. Bleibt noch die wankelmütige Bildung oder Lebensart. Sie weigert sich, zu tun, was vernünftig wäre. Warum? Weil sie die Sklavin der Bequemlichkeit ist. Wo immer es geht, wählen wir die Fremdbewegung, uns selbst anzustrengen, ist uns zu mühsam. Die Mobilität dient zuerst und vor allem der Bequemlichkeit. Weil es so «gäbig» geht, lasse ich mich bewegen. Mit dem Auto zum Kiosk und mit dem Flugzeug in die Karibik. «Gäbig» heisst auch billig. Nie muss ich mir überlegen, ob ich’s mir leisten kann. Wankelmütig kann ich meine Ziele wählen, es kommt kaum darauf an, wohin. «Gäbig» heisst auch schnell. Geld für meine Mobilität habe ich immer genug, Zeit für die Reise immer zu wenig. Die Bequemlichkeit ist ungeduldig. Langsame Mobilität ist keine.
Autor
Benedikt Loderer, 1945, lernte Hochbauzeichner, studierte Architektur an der ETHZ, war Hochschulassistent, angestellter Architekt, Stückeschreiber für Radio und Fernsehen, Architekturkritiker, Gründer der Zeitschrift Hochparterre, deren Chefredaktor er wurde, er pensionierte sich und ist heute freier Schreiber und Stadtwanderer.