Neuer Charme für begnadeten «alten» Baustoff

Der seit der Entwicklung des Zements fast in Vergessenheit geratene Rohlehmbau erfährt in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit. Die (Wieder-)Entdeckung traditioneller Techniken wird durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die grössere Verfügbarkeit natürlicher Zusatzstoffe (z.B. Abfallfasern und Holzextrakte) zur Verbesserung der Leistungen verstärkt.

Als Martin Rauch 1986 den ersten Preis – vom österreichen Bautenministerium vergeben – für eine Autobahnlärmschutzwand aus Stampflehm gewann, wurde das Projekt nicht gebaut. Die Idee, eine Wand ohne Beton zu bauen, war ihrer Zeit zu weit voraus. Es dauerte rund zehn Jahre, bis das erste Haus mit tragenden Stampflehmwänden realisiert wurde. Es folgten mehrere andere Projekte, darunter das Haus von Martin Rauch in Schlins (AT), das sich durch den mutigen Verzicht auf grosse Dachvorsprünge auszeichnet (Abbildung 1). Im Jahr 2012 wurde in Zusammenarbeit mit dem Büro Herzog & de Meuron das Ricola Kräuterzentrum gebaut. Für das Projekt wurden Stampflehmblöcke vorgefertigt und vor Ort montiert: Die Rohlehmtechnologie erreichte die Stufe der industrialisierten Serienfertigung. Die letzte Grenze wurde 2019 mit dem Bau einer Werkstatt in Schlins überschritten, deren Stampflehmwände nicht nur ihr eigenes Gewicht, sondern auch einen Brückenkran, der schwere Rohlehmsteine bewegt, tragen.

Vollständige Wiederwertbarkeit

Die Erfolge von Martin Rauch gehen einher mit der zunehmenden (Wieder-)Entdeckung und dem Vertrauen in Rohlehm als geeignetes Baumaterial für die heutige Architektur. Lehmbautechniken sind seit über 9000 Jahren bekannt. In Jemen, Mali und China können riesige historische Rohlehmbauten besichtigt werden. In Europa wurde die Rohlehmtechnologie mit dem Aufkommen von Zement aufgegeben. Die heutige Suche nach ökologischen Baumaterialien führte zur Renaissance des Lehmbaus. Rohlehm hat viele umweltfreundliche Vorteile. Er ist in grossem Umfang verfügbar: Die meisten Böden können verwendet werden, wenn sie entsprechende Anteile an Kies, Sand, Schluff und Ton enthalten. Im Prinzip können Lehmhäuser mit den bei Tiefbauarbeiten anfallenden Aushubabfällen gebaut werden. Für die Herstellung ist keine thermische Energie erforderlich. Kalk und Portlandzement müssen bei etwa 800 bzw. 1200 Grad Celsius «gebrannt» werden, um zu mineralischen Bindemitteln zu werden. Rohlehm muss einzig mit Wasser vermischt, von Hand oder maschinell in die gewünschte Form gepresst und an der Luft getrocknet werden. Der einzigartige ökologische Vorteil von Rohlehm ist jedoch seine vollständige Wiederverwertbarkeit. Rohlehmbauteile können abgerissen, mit Wasser neu gemischt und dann zu neuen Produkten geformt werden, wodurch ein kontinuierlicher Abbau natürlicher Ressourcen vermieden und eine tatsächliche Kreislaufwirtschaft im Bausektor erreicht wird. Eine weitere «grüne» Besonderheit von Lehmbaustoffen ist ihre hohe hygroskopische Kapazität, die eine intensive Absorption und Desorption von Wasserdampf in der Matrix bewirkt. Diese Eigenschaft ermöglicht eine wirksame passive Regulierung des Innenraumklimas und hilft, den Energieverbrauch für Heizung und Klimatisierung einzudämmen.

Herausforderungen

Es gibt noch offene Herausforderungen: begrenzte Tragfähigkeit, Empfindlichkeit gegenüber Wassererosion und lange Arbeitszeiten. Es sind jedoch Lösungen vorhanden. Die Stabilisierung von Lehm wird in der Regel mit kleinen Zementzusätzen durchgeführt. Diese Option beeinträchtigt jedoch die Wiederverwendbarkeit und die hydrothermischen Eigenschaften. Inspiriert von der Töpfertechnik und der traditionellen Bauweise wird zurzeit der Einsatz biobasierter Zusatzmittel untersucht. Der Zusatz von Pflanzeninhaltsstoffen wie Gummen und Ölen, Polysacchariden, Proteinen oder Polyphenolen (z.B. Lignin und Tannine) kann die Wassererosionsbeständigkeit wirksam verbessern. Kurze Pflanzenfasern wurden in der Regel zugesetzt, um die Rissbildung während des Trocknens zu verhindern, aber es wurde bewiesen, dass sie zudem die Druckfestigkeit von Lehmbaustoffen um bis zu 30 Prozent erhöhen können. Die Verwendung von nicht verspinnbaren Abfällen aus der örtlichen Garn- und Textilindustrie (z.B. Hanf, Flachs) ist denkbar. Vergleichbare Ergebnisse werden beim Einsatz von Altpapierfasern erwartet.

Oxara AG, ein 2019 gegründetes Spin-off der ETH Zürich, hat mineralische Zusatzmittel patentiert, welche die pastösen Roherdgemische rasch in einen dünnflüssigen Schlamm umwandeln, der nach einem vorgegebenen Zeitintervall (zwischen wenigen Minuten und mehreren Stunden) wieder die ursprüngliche Konsistenz annimmt. Die Innovation ermöglicht die Anwendung von Rohlehm nach Verfahren und Zeitplänen, die mit dem Betonbau sehr vergleichbar sind, was die Arbeitszeiten verkürzt.

Innovative Studierendenprojekte

Seit 2020 arbeiten der Fachbereich Architektur und das Institut für Werkstoffe und Holztechnologie IWH der BFH bei der Durchführung von interdisziplinären Studierendenprojekten («Special Week») intensiv zusammen – mit dem Ziel der Entwicklung innovativer Lösungen für Rohlehmbauten. Im Frühjahr 2022 trat Oxara AG dem Team bei. Die Zusammenarbeit ermöglichte es, auf dem Gurzelenareal (ehemaliges Fussballstadion) in Biel aus Rohlehm einen Pavillon in Echtgrösse zu bauen und einzigartige architektonische Lösungen zu erproben (Abbildung 2). Das Lehmmaterial war eine Ad-hoc-Mischung aus Lehm, Sand und Kies mit Zusatz von kurzen Flachsfasern und wurde in traditionelle Rahmen für Betonkonstruktionen gegossen. Nach dem Vorbild traditioneller chinesischer Bauwerke wie der Chinesischen Mauer wurden beim Giessen Geotextilien aus Kokosnussschalen horizontal angebracht, um die Tragfähigkeit der Wände zu verbessern. Das Dach wird von Pfosten gehalten, die direkt in die Lehmwände eingesetzt werden. Im Herbst 2022 wurde ein weiterer, runder Pavillon errichtet (Abbildung 3). Diesmal war die Idee, hohle Lehmblöcke vorzufertigen, die später auf der Baustelle montiert werden können. Die Blöcke wurden in ein Rahmenwerk aus Textilien gegossen. Diese Technik ermöglichte eine schnellere Trocknung der Mischung und gab der Konstruktion eine lebendige Optik. Rund 100 Ziegel wurden an einem Nachmittag hergestellt und wenige Wochen später für den Zusammenbau aufs Gurzelenareal transportiert.

Nächste Projektideen zielen auf die Gestaltung und Herstellung von Decken und auf die wissenschaftliche Untersuchung von neuen Rohlehmmischungen in Kombination mit kurzen und langen Pflanzenfasern und biobasierten Molekülen. In Zusammenarbeit mit dem Chair for Sustainable Construction der ETH Zürich werden auch Forschungsprojekte zur Förderung des Einsatzes von Rohlehm für den sozialen Bau in Entwicklungsländern diskutiert. Eine neue Ära für ökologische und wohnliche Lehmbauten steht erst am Anfang.

Co-Autor: Johannes Christer Hänggi; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, BFH

Dr. rer. nat. Sauro Bianchi
Lehrbeauftragter für Materialtechnologie, BFH
Stanislas Zimmermann
Studiengangsleiter Master Architektur, BFH