Nicht nur verdichten – auch entdichten

Lukas Huggenberger, Dozent im Masterstudiengang Architektur, und William Fuhrer, Co-Leiter des Forschungskompetenzbereichs Dencity, über den urbanen Raum der Zukunft und die Zusammenarbeit von Forschung und Lehre an der BFH.

spirit biel/bienne: Wo fühlen Sie sich wohler: in der Stadt oder auf dem Land?

Lukas Huggenberger: Das kommt darauf an. Für das tägliche Leben ziehe ich die Stadt vor. Ich wohne in Zürich-Wiedikon, arbeite in der Stadt, erreiche alles zu Fuss. Ich schätze dieses Kleinräumige, diese Gemeinschaft, in der man seine Nachbarn noch kennt. Ich lebe quasi in einem städtischen Dorf. Aber ich mag selbstverständlich auch die Weite auf dem Land.

William Fuhrer: Ich erlebe das gleich, nur dass ich in Bern wohne. Die Aareschlaufe sorgt bei uns dafür, dass ländlicher Erholungsraum sehr nahe ist.

Heisst das: Menschen fühlen sich in Zukunft in einer Stadt erst so richtig wohl, wenn sie gar nicht mehr merken, dass sie in einer Stadt leben?

Huggenberger: Es kommt sehr auf die jeweilige Lebensphase an und auf den Ort, an dem man sozialisiert wurde. Jemand, der in New York aufgewachsen ist, empfindet Zürich wohl als Dorf. Von jedem Punkt in Zürich ist man zu Fuss innerhalb von 20 Minuten im Grünen.

2>Die Stadt Burgdorf erarbeitet einen neuen kommunalen Richtplan für Siedlung und Verkehr im Rahmen des Projekts «Vision Burgdorf 2035». Die Abteilungen Forschung und Lehre der BFH haben sich mit dem Erarbeiten von innovativen Lösungen daran beteiligt. Welches waren die grössten Herausforderungen?</2>

Fuhrer: Grundsätzlich sind die künftigen Herausforderungen für Burgdorf die gleichen wie für Zürich oder ein Dorf. Es geht um die Innenentwicklung, kein zusätzliches Bauland darf eingezont werden. Die Mobilität ist ein wichtiges Thema, also das Bedürfnis von allen, sich fast beliebig bewegen zu können. Daraus soll eine schlüssige Verkehrsplanung entstehen.

Mit Masterstudentinnen und -studenten haben Sie, Herr Huggenberger, sich konkret mit dem Industrie- und Gewerbegebiet Buchmatt befasst.

Huggenberger: Es war ein extrem spannender Prozess. Die Gemeindevertreter pendelten zwischen den ganz grossen Visionen und den Details des Gebiets, das sie ja sehr gut kennen. Ich glaube, wir konnten ihnen helfen, diese beiden Ebenen zu verknüpfen. Wenn sich eine Firma vergrössern und entwickeln will, darum herum aber kein Platz mehr dafür ist, gibt es auch andere Lösungen: Deshalb haben wir versucht, Industrie und Gewerbebetriebe in die Höhe zu entwickeln, sie mehrgeschossig zu stapeln. Zum Teil haben wir auch übers Ziel hinausgeschossen. Am Anfang sah das Gebiet dann aus wie ein «Little Manhattan».

Die Arbeitswelt wird sich radikal verändern. Inwiefern beeinflusst das die Städteplanung?

Huggenberger: Künftige Entwicklungen sind schwierig abzuschätzen. Es gibt allerdings vermehrt Beispiele dafür, dass der Raumbedarf auch für Industriebetriebe flexibler wird. Es wird in diesem Sektor immer mehr neutrale Flächen geben, in denen man die Möglichkeit hat, sich zu vergrössern, zu verkleinern, Partner dazuzunehmen.

Fuhrer: Weil die Entwicklungen so schwierig abzuschätzen sind, beschäftigen wir uns mit unserer angewandten Forschung oftmals mit dem nächsten sinnvollen Schritt – und zwar in Zusammenarbeit mit Unternehmen, die konkrete Bedürfnisse haben. Flexibilität, Schnelllebigkeit, Dynamik sind dabei zentrale Stichwörter. Das betrifft aber nicht nur einzelne Betriebe, sondern Industrie- oder Gewerbezonen als Ganzes.

Huggenberger: Mit dem Auto morgens ins Gewerbegebiet zur Arbeit fahren und abends wieder nach Hause: Diese Struktur wird sich nicht nur in Burgdorf bald überlebt haben. Deshalb haben die Studentinnen und Studenten das Quartier Buchmatt auch als gemischtes Wohn- und Arbeitsquartier geplant. Menschen wollen Arbeiten und Wohnen nicht mehr so scharf trennen – zeitlich und räumlich nicht. Durchmischte Nutzungen sind aber nicht nur in Gewerbegebieten anzustreben, sondern auch in Wohnquartieren oder städtischen Zentren. In Letzteren geschieht ja oft das Gegenteil: Wohnen frisst dort das Gewerbe auf, weil sich der Spengler die Miete für Räumlichkeiten nicht mehr leisten kann. In der Buchmatt haben wir viel Potenzial für durchmischte Nutzungen entdeckt, das heute längst nicht ausgeschöpft ist.

Was zum Beispiel?

Huggenberger: alte Kanäle, die früher Mühlen als Antrieb dienten. An einzelnen Orten sind sie noch zu sehen, man könnte sie freilegen und viel mehr nutzen: zum Strukturieren eines Stadtteils, zum Schaffen von öffentlichen Erholungsräumen und identitätsstiftenden Orten. Wir haben mit unseren Vorschlägen Diskussionsgrundlagen geschaffen, die es Burgdorf ermöglichen, visionär zu denken, ohne Menschen und Betriebe vor den Kopf zu stossen. Denn die Vorschläge kommen ja von einer Fachhochschule und nicht vom Gemeinderat.

Fuhrer: Wir geniessen eine gewisse Narrenfreiheit.

Sie, Herr Fuhrer, helfen mit angewandter Forschung aber auch Betrieben mit konkreten Bedürfnissen. Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Fuhrer: Wir haben mit einem Betrieb zusammengearbeitet, der Trolleybusse herstellt. Da diese neuerdings über Batterien verfügen und deshalb nicht mehr auf Oberleitungen angewiesen sind, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten bezüglich der Linienführungen. Daraus haben wir für das Unternehmen ein Beratungs- und Planungstool erarbeitet, das es beim Verkauf von Bussen nutzt. Damit lässt sich eine optimale ÖV-Erschliessung berechnen – optimal in Bezug auf CO2-Ersparnis, Anzahl erschlossene Personen und städtebauliche Qualität. An diesem Projekt haben die Städte Biel und Bern mitgearbeitet. Es ist natürlich schön, zu sehen, dass unsere Forschungsergebnisse konkret umgesetzt werden.

Die Bereiche Forschung und Lehre arbeiten an der BFH wie im Beispiel Burgdorf oft zusammen. Wie profitiert die Forschung davon, Herr Fuhrer?

Fuhrer: Enorm! Wir lassen Forschungsfragen nicht nur von Architekturstudentinnen bearbeiten, sondern zum Beispiel auch von Bauingenieuren. Diese haben einen anderen Blick auf Urbanität und Mobilität, haben eine andere Berufsrealität als ich als Architekt. Sie bauen Strassen. Ich denke tendenziell: Besser den städtischen Raum lebenswerter machen, als neue Strassen zu bauen. Also geht es darum, Kompromisse zu finden. Diese interdisziplinäre Arbeit erweitert den Berufshorizont. Das gilt auch für Bauingenieure: Sie lernen zum Beispiel, welche energetischen, stadträumlichen oder gesellschaftlichen Folgen eine vierspurige Autobahn hat. Das stärkt ihr Verantwortungsgefühl.

Und durch die Zusammenarbeit mit der Forschung bilden Sie, Herr Huggenberger, bessere Architekten aus?

Huggenberger: Ja, mit Sicherheit. Überspitzt formuliert: Architekt ist der letzte humanistische Beruf. Unsere Aufgabe ist es, den richtigen Leuten die richtigen Fragen zu stellen und daraus eine qualitativ hochwertige Gesamtsicht zu erstellen. Forschung leistet einen wichtigen Beitrag, indem sie scheinbar gültige Tatsachen und Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Forschungsarbeiten bilden eine ideale Ergänzung zur harten Realität mit einschränkenden Zonenplänen und juristischen Vorschriften.

Fuhrer: Es erhöht die Motivation ungemein. Manche Studenten würden am liebsten zum Stadtpräsidenten gehen und ihr eigenes Projekt verkaufen, damit sie nach Abschluss des Studiums weiterarbeiten können. Das hat es bereits gegeben, zwei Studenten konnten vor ein paar Jahren ihr Projekt eines Museums weiterbearbeiten.

Huggenberger: Das ist das eigentliche Plus einer Fachhochschule gegenüber einer Hochschule: Letztere schwebt sehr oft in höheren Sphären. Wir in Burgdorf sind sehr nah dran an den Problemen von Gemeinden und Unternehmen.

Infos zum Architekturstudium und zur Forschung

Lukas Huggenberger
Enseignant en architecture et projet, BFH
Wiliam Fuhrer
Coresponsable du domaine de compétences Dencity, BFH