Test eines elektrischen Antriebssystems.

SCI-Mobility-Labor: im Jubiläumsjahr eingeweiht

Pünktlich zum Jubiläumsjahr der BFH wurde am 7. April 2022 das SCI-Mobility-Labor der Berner Fachhochschule eingeweiht. SCI steht für «Spinal Cord Injury» (Rückenmarksverletzung), Mobility für die Fortbewegungsmittel: vom einfachen Rollstuhl bis hin zum dreirädrigen Velo, das mit dem Rückenmark der lenkenden Person verbunden ist.

Das SCI-Mobility-Labor ist eng mit einer persönlichen Tragödie verbunden: 2013 wurde ein Dozent durch einen Mountainbike-Unfall zum Tetraplegiker. Sein Hintergrund als Ingenieur und Sportler diente als Nährboden für eine Vielzahl verschiedener Ideen. Diese wurden zusammen mit Studierenden und Kolleginnen und Kollegen der BFH ausgewertet und in Form von verschiedenen Prototypen umgesetzt, so etwa mit einem dreirädrigen Velo mit zwei Pedalantrieben, einem Stimulationsgerät zur FES (Functional Electrical Stimulation), einem Gehapparat usw. Im Jahr 2016 wurde das Start-up GBY (Go By Yourself) gegründet, das das dreirädrige Velo GO-TRYKE entwickelt und produziert. 2017 liess sich Sebastian Tobler als teilnehmender Patient der EPFL/CHUV-Studie STIMO einen Stimulator unter die Haut sowie ein Elektrodenband zur EES (Epidural Electrical Stimulation) am Rückenmark implantieren. Seitdem sind mehrere von Sebastian Tobler initiierte Gemeinschaftsprojekte mit verschiedenen Universitäten angelaufen. 2021 regte Peter Brunner, Leiter Forschung und Dienstleistung der BFH-TI, Sebastian Tobler dazu an, in die Forschung einzusteigen: Das SCI-Mobility-Labor war geboren.

Messen, analysieren, neu entwickeln

Wenn nicht beeinträchtigte Menschen ein Auto kaufen wollen, stehen ihnen detaillierte Informationen und teilweise standardisierte Vergleichstests zu den verschiedenen Modellen zur Verfügung. Dadurch können sie ihr zukünftiges Auto auf der Grundlage von sachlichen Informationen auswählen. Für Fortbewegungsmittel für Menschen mit eingeschränkter Mobilität existieren solche Informationen jedoch nicht, obwohl die Preise dafür durchaus mit jenen für Autos vergleichbar sind:

Ein elektrischer Rollstuhl kostet zwischen 20 000 und 60 000 Franken.

Diese Tatsache war Anlass für unser erstes Testprojekt, mit dem wir die Effizienz und die Sicherheit von Zugsystemen für Rollstühle evaluierten. In einer ersten Studie wurden Tests mit einer Kombination aus Rollstuhl und vorgespanntem elektrischem Antrieb durchgeführt. Dies ermöglichte die Erstellung eines Testprotokolls für Serienprüfungen, die im Sommer 2022 im Rahmen einer Bachelorarbeit unter der Leitung von Raphael Murri, Professor für Fahrdynamik an der BFH, beginnen werden.

Mit dieser ersten Studie konnten auch die Schwachstellen der Systeme aufgezeigt werden. Das SCI-Mobility-Labor entwickelte daher im Rahmen von Projektarbeiten mit Studierenden eine neue Lösung. Bis Ende 2022 soll ein entsprechender Prototyp gebaut werden, bei dem die beobachteten Schwächen behoben sein werden.

Interdisziplinäre Zusammenarbeiten

Sebastian Tobler legt sowohl bei seinen täglichen Übungen als auch bei den von ihm entwickelten Geräten grossen Wert auf die gleichzeitige Aktivierung der Arme und Beine unter Beachtung der damit verbundenen physiologischen Bewegungen. Nach einigen Monaten mit seinem GO-TRYKE war Sebastian Tobler in der Lage, die Bewegung in seinem Körper zu spüren, ohne dabei jedoch seine Beine aktivieren zu können. Dies war laut Dr. Jérôme Barral von der Universität Lausanne auf die Aktivierung seines CPG (Central Pattern Generator) zurückzuführen.

 Im gleichen Zeitraum traf sich Sebastian Tobler mit Professor Kenneth Hunt vom Institut für Rehabilitation und Leistungstechnologie der BFH und schlug ihm vor, eine FES-Stimulation mit seinem dreirädrigen Velo zu kombinieren. Dies mit dem Ziel, die Beinmuskeln beim Treten stimulieren zu können. Die zum Patent angemeldete Idee wurde 2018 vom NeuroRestore-Team (EPFL/CHUV) mit der EES-Variante für einen Proof of Concept getestet und in «Nature»[1] veröffentlicht.  Sebastian Tobler weiss um die Wichtigkeit, mit Spezialistinnen und Spezialisten aus verschiedenen Bereichen zusammenzuarbeiten. Deshalb hat er 2019 erstmals die folgenden Institutionen und Personen zusammengebracht: BFH (Prof. K. Hunt), UNIL (Dr. J. Barral), NeuroRestore (Prof. G. Courtine, Prof. J. Bloch), Schweizer Paraplegiker-Forschung (Dr. S. Bertschy) und schliesslich sein eigenes Start-up-Unternehmen GBY. Seitdem werden im Rahmen einer interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedene Arbeiten durchgeführt, z. B. im Zusammenhang mit dem GO-TRYKE:

Entwicklung des GO-TRYKE Kid, einer GO-TRYKE-Version für Kinder, mittels eines Projekts mit Studierenden der BFH im Jahr 2020 mit anschliessender Produktion von zwei Prototypen 2022. Dieser Schritt ist die Folge einer mit dem Departement Gesundheit der BFH durchgeführten Masterarbeit zur Evaluierung der Benutzbarkeit des Fahrzeugs für Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen.

Entwicklung einer Schnittstelle für das GO-TRYKE, die eine an die Anstrengung der lenkenden Person angepasste Nutzung ermöglicht und mit den Stimulationssystemen EES und FES kompatibel ist. Innosuisse-Projekt mit dem IRPT der BFH und GBY.

Herstellung eines stationären Geräts (BiPedal) durch das IRPT der BFH, das die Bewegung des GO-TRYKE simuliert und es ermöglicht, die Kraft, die Geschwindigkeit und die Position aller vier Gliedmassen zu messen und damit die Interaktion zwischen Bewegung und CPG (Central Pattern Generator) zu verstehen.

Masterarbeiten zum BiPedal an der Universität Lausanne (UNIL) durch Studierende der UNIL und der Universität Bern. Studien rund um die Muskel- und Gehirnaktivitäten.

 

[1] doi.org/10.1038/s41586-018-0649-2 

Ein paar Zahlen zu Arbeiten oder Erfahrungen in Zusammenhang mit eingeschränkter Mobilität vor Eröffnung des SCI-Mobility-Labors:

16 Projektarbeiten, Bachelor-Studierende BFH, Fahrzeugbau

7 Bachelorarbeiten BFH, Fahrzeugbau

5 Masterarbeiten BFH-TI/IRPT, Universität Lausanne, EPFL/CHUV, Technische Universität Belfort-Montbéliard

12 Prototypen: privat, GBY AG, BFH und NeuroRestore

1 Innosuisse-Projekt 2022/2023, GBY AG – BFH-TI/IRPT

10 Studienteilnahmen als Patient (Sebastian Tobler)

8800 Trainingsstunden (Sebastian Tobler, seit 2014)

Co-Autor

Vincent Morier, Assistent, BFH

Sebastian Tobler
Leiter SCI-Mobility-Labor, BFH
Remo Lauener
Dozent für Automobil- und Fahrzeugtechnik, BFH