
Sprechende Bilder – kommunizieren, wenn gemeinsame Worte fehlen
Im Gesundheitswesen ist eine verständliche Kommunikation für die sichere, qualitativ hochstehende und gleichwertige Gesundheitsversorgung aller Patient*innen – unabhängig von ihrer Herkunft – zentral. Im Projekt «Sprechende Bilder» wurde untersucht, wie nonverbale, bildgestützte Hilfsmittel die Kommunikation zwischen Pflegefachpersonen und anderssprachigen Patient*innen unterstützen können.
Hürden des verbalen Austauschs
Trifft eine Person als Notfall in der Notaufnahme ein, bleiben den Notfallpflegefachpersonen im Durchschnitt nur fünf Minuten, um wesentliche Informationen zur Patientin beziehungsweise zum Patienten oder zur Gesundheitsproblematik nach dem SAMPLE-Schema zu erfragen. Die Buchstaben SAMPLE stehen dabei für den Inhalt, der besonders wichtig ist: Symptome, Allergien, Medikation, die medizinische Vorgeschichte, Zeitpunkt der letzten Nahrungsaufnahme und Informationen darüber, was eigentlich vorgefallen ist. Dies zu erfragen, wird genau dann problematisch, wenn Notfallpfleger*innen und Patient*innen keine gemeinsame Sprache sprechen. In der Schweiz leben rund 200 000 Personen, die weder eine Landessprache noch Englisch sprechen. Sprachbarrieren sind besonders bei der Notfallversorgung von anderssprachigen Kindern und Jugendlichen die häufigsten Hindernisse. Sie beeinträchtigen die Patientensicherheit, Behandlungs- und Pflegequalität erheblich. Eine verständliche Kommunikation ist daher für eine sichere, hochwertige und gerechte Gesundheitsversorgung unerlässlich. Bestehende Kommunikationslösungen, die auf automatischer Übersetzung basieren, sind in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, können visuelle Darstellungen eingesetzt werden. Im Rahmen des Projekts «Sprechende Bilder» wurden einerseits die Sprachbarrieren in der Notfallversorgung von Kindern und Jugendlichen analysiert. Zum anderen wurde ein Prototyp entwickelt, der eine entscheidende Lücke schliesst zwischen Kommunikationssituationen, die sich mit Händen und Füssen regeln lassen, und solchen, die zwingend professionelles Dolmetschen erfordern.
Human-centred Design und partizipative Entwicklung
Wie entwirft man eine Kommunikationshilfe für pädiatrische Notfälle? Welche Funktionen sind für die tägliche Praxis nützlich? Welche Abbildungen zeigen verständlich Krankheitssymptome und sind für Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund verständlich? Ein «Human-centred Multi-Methoden Design» wurde gewählt, um eine Lösung zu erarbeiten. Dieses Design erlaubt, eine nützliche und nachhaltige App zu erarbeiten, denn der Fokus richtet sich auf die Nutzer*innen, ihre Bedürfnisse und Anforderungen sowie die Benutzbarkeit und Zweckmässigkeit der App. Im interdisziplinären Forschungsprojekt «Sprechende Bilder» arbeiteten Forschende der Arbeitsgruppe Health Care Communication Design (HCCD) aus Designforschung, Gesundheit, Pflegeforschung und Medizininformatik zusammen. In dem partizipativen Entwicklungsprozess wurden zudem potenzielle Nutzer*innen (pädiatrische Notfallpflegefachpersonen, Migrantenkinder und Eltern) einbezogen. Während des gesamten Entwicklungsprozesses wurde das Feedback der zukünftigen Nutzer*innen eingeholt.
Die Anforderungen an das Tool wurden durch Interviews und Fragebögen mit den Pflegefachpersonen erhoben. Daneben umfasste der Entwicklungsprozess Mock-up-Tests, die Entwicklung von Prototypen, Usability-Tests und Nutzerstudien.
Bildbasierte Kommunikationsbrücke
Entstanden ist nach 1,5 Jahren Projektlaufzeit ein Tool, das das SAMPLE-Schema abbildet. Es ist ein digitaler Bildkatalog entstanden, der in den Anamnesegesprächen genutzt werden kann, um die Kommunikation und das Verständnis zu unterstützen. Die mehr als 25 Bilder lassen sich in zehn Kategorien einordnen, darunter die SAMPLE-Kategorien ergänzt um Administratives, Zeit und Zahlen und Weiteres. Zu jedem Bild wurden Synonyme gesammelt, was eine freitextliche Suche in der Bildsammlung ermöglicht. Im Gespräch mit fremdsprachigen Eltern können Notfallpflegefachpersonen dieses Tool nutzen: Auf dem Tablet kann die Pflegefachperson Bilder zu den Symptomen oder Aspekten, die sie erfragen möchte, auswählen. Damit wird ein gemeinsames Verständnis geschaffen. Das Tablet wird dann den Eltern gezeigt. Oftmals reicht eine der zwei Antworten Ja oder Nein, um ein aufgetretenes Symptom oder eine Allergie anzugeben oder zu verneinen.
Usability auf dem Prüfstand in fünf User Testings
Fünf User Testings mit fremdsprachigen Eltern und Pflegefachpersonen wurden durchgeführt, um zu untersuchen, wie und ob das Tool unterstützend eingesetzt werden kann. Im Mittelpunkt der User Testings stand die Bearbeitung von Fallvignetten, um möglichst reale Notfallsituationen zu generieren. Dabei wurde ein Unfallhergang oder wurden Symptome eines Kindes vorgegeben und wurde auf dieser Basis als Rollenspiel das Gespräch durchgeführt. Die Pflegefachpersonen benötigten anfänglich etwas Zeit, um die App in der Interaktion mit dem Elternteil zu nutzen. Im Laufe der Rollenspiele wurden die Bilder jedoch immer mehr in der Interaktion genutzt, wobei die App teilweise auch zur Mutter oder zum Vater gedreht wurde, damit diese*r das Bild anschauen, erkennen und bestätigen oder verneinen konnte.
Die Nutzer*innen empfanden die Bilder generell als ansprechend, gut verständlich und hilfreich. Vor allem unterstützten sie gut bei der schnellen Einschätzung der Symptome oder des Unfallhergangs. Pflegefachpersonen und Eltern kamen allgemein gut mit der App zurecht und erachteten deren Aufbau als schlüssig. Positiv hervorgehoben wurde das gemeinsame und gleichzeitige Betrachten der Bilder während des Gesprächs. Die Bilder wurden dabei nie isoliert genutzt, sondern stets ergänzt durch Gestik, Mimik und Sprache, was zu einem empathischen und wertschätzenden Dialog beigetragen hat. Die Rollenspiele ergaben ausserdem viele Hinweise auf fehlende oder nicht notfallrelevante und somit überflüssige Bilder. Zeitliche Zusammenhänge konnten ebenfalls schwer ausgedrückt werden.
Potenziale der Weiterentwicklung
Das Projekt «Sprechende Bilder» entwickelte ein digitales, bildbasiertes Instrument zur Unterstützung der nonverbalen Kommunikation in pädiatrischen Notfällen. Es gibt viele Möglichkeiten, das Tool zu erweitern, zum Beispiel in Bezug auf die Nachsorgeverfahren und die Dokumentationsmöglichkeiten. So zeigte sich das Bedürfnis nach einer zusätzlichen Kategorie «Procedere», mit der die Eltern am Schluss des Gesprächs über das geplante pflegerische sowie medizinische Vorgehen informiert werden können (z.B. Blutentnahme, Röntgen, Wartezimmer). Aktuell wird ein Konzept erarbeitet, wie auf Basis der im Gespräch gewählten Bilder ein Protokoll erstellt werden kann. Als nächster Schritt soll das Werkzeug in der Praxis erprobt werden.
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