Viele leer stehende Wohnungen – eine ungesunde Stadtentwicklung

2>Schweizer Städte schrumpfen, und doch wird weitergebaut. Dies generiert eine Zunahme von leer stehenden Wohnungen. Besonders augenfällig ist diese Entwicklung in Huttwil, jener Schweizer Gemeinde mit dem höchsten Leerwohnungsbestand landesweit – 14,6 Prozent. Forscherinnen und Forscher der Berner Fachhochschule BFH gingen dieser Entwicklung auf den Grund.</2>

14,6 Prozent leere Wohnungen in Huttwil – hinter dieser nackten Zahl verbirgt sich eine alarmierende Fehlentwicklung in der Raumplanung, die volkswirtschaftlich und kulturell einen langfristigen und negativen Effekt auf weitere Gemeinden und Regionen in der Schweiz nach sich ziehen könnte.

Das Forschungsprojekt «Städtliwerkstatt» des BFH-Forschungskompetenzbereichs Dencity bzw. die daraus gewonnen Erkenntnisse, die qualitativen und quantitativen Analysen und die wissenschaftliche Interpretation von Ursachen und Wirkung bestätigen die These, dass die Ursache des Leerstands eine sich in den letzten Jahren abzeichnende Überlagerung mehrerer Faktoren ist: Eine zu hohe Baulandausweisung am falschen Ort, die Reurbanisierung und die Kapitalisierung des Bodens sowie die Zinspolitik sind die wichtigsten Treiber, die sich nicht nur überlagern, sondern gegenseitig kumulieren. Trotz hohen Kaufpreisen und deutlich gesunkener Renditen hält der Run auf das wertstabile Betongold aufgrund der tiefen Zinsen an. Diese Marktverzerrung hat zur Folge, dass schweizweit über die eigentliche Nachfrage hinaus Wohnungen erstellt werden.

Der hohe Wohnungsleerstand in der Gemeinde Huttwil hat volkswirtschaftliche und kulturelle Folgen. Das grosse Wohnungsangebot drückt auf die Immobilienpreise, und die sinkenden Mieten ziehen Personen mit wenig finanziellen Ressourcen an. Für Huttwil bedeutet dies: sinkende Steuerkraft und höhere Ausgaben. Ein negativer Strukturwandel setzt ein. Es sind daher ganzheitliche raumplanerische Lösungsansätze gefragt, die sowohl das Thema Identität als auch langfristige Perspektiven unter dem Aspekt der Schrumpfung miteinbeziehen. Dieser Ansatz wurde in Huttwil im Rahmen eines Forschungsmandats der BFH mit dem Projekt «Städtliwerkstatt» verfolgt und umgesetzt.

Von 40 auf 400 leere Wohnungen

Der unterdurchschnittlichen Bevölkerungsentwicklung gegenüber steht eine überdurchschnittlich hohe Leerstandsentwicklung in den letzten vier Jahren – ein Anstieg der Leerwohnungen von 40 auf 400. Dies entspricht proportional zur Bevölkerung einem Leerstand von 15 Prozent, der schweizerische Durchschnitt liegt bei 1.7 Prozent.

Donuteffekt lässt Lebensqualität sinken

Die Leerstände akzentuieren sich in Altbauten im historischen Kern Huttwils. Das ist eine der grundsätzlichen Problemstellungen in Bezug auf die zu erwartenden und sich abzeichnenden Auswirkungen. Dadurch wird die Binnenwanderung ausgelöst, die zunehmend zu einer Ausdünnung des Ortskerns führt – was als Donuteffekt bezeichnet wird. Die negativen Auswirkungen (leer stehende Erdgeschosse, Vernachlässigung des Baubestands) stellen einen zunehmend drohenden Zerfall und eine Verödung des Zentrums dar, was mit einem Identitätsverlust einhergeht. Dieser verstärkt die Abwärtsspirale der ohnehin ungesunden Siedlungsentwicklung zusätzlich. Mit dem Verlust der Ortsidentität gehen die urbane Qualität und die Lebensqualität verloren.

 

 

Identität und Lebensqualität

Ausstrahlung und Lebendigkeit sind Merkmale von gesunden Städten, Quartieren und Dörfern. Sie sind Orte, die Lebensqualität generieren und wo sich Menschen gerne aufhalten. Die Raumplanerin spricht von urbaner Qualität. Was die Kriterien[1] urbaner Qualität sind, wurde im Rahmen des Nationalforschungsprojekts NFP 65 definiert. Zentral sind – in Ergänzung zu NFP 65 – weitere, nicht abschliessende Kriterien, die zwingend einzubeziehen sind: Identität, Partizipation und Prozesse, die anstelle finaler Ziele im Fokus der Planung stehen.

Quartieridentität sorgt für Wohlbefinden

Quartieridentität muss als ein emotionaler Standortfaktor angesehen und in Entwicklungskonzepte integriert werden. Identität soll jedermann dienen, hängt sie doch direkt mit dem Wohlbefinden der Menschen zusammen. Jeder Mensch strebt nach aufrichtiger eigener Identität. Analog dazu geht es auch bei Stadt- oder Quartieridentität primär um Authentizität und nicht um die «eigene Grossartigkeit». Zwar scheinen die Möglichkeiten und die Mobilität unbegrenzt und die Freiheiten riesig. Realität ist jedoch, dass die meisten Menschen dem Zwang, sich an einen bestimmten Ort zu binden, nicht ausweichen können. Sei es aus wirtschaftlichen, familiären oder anderen Gründen. So landen viele Menschen an Orten, die nie ihr Ziel waren. Hier greift der soziale Aspekt der Identitätsentwicklung direkt: Wie wird eine Stadt, ein Quartier zu meiner Stadt, meinem Quartier? Ziel ist für die Menschen ihre Identifikation mit dem Ort, dass sie gerne dort leben, auch wenn sie sich vielleicht geschworen haben, hier niemals alt zu werden.

Hier setzte das Planungsformat der «Städtliwerkstatt» an. Das Ziel sind die Planung von entsprechenden Massnahmen zur Stärkung der Identität Huttwils und die Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrer Stadt. Leerstand und Schrumpfung als Ausgangslage bieten der Stadtentwicklung neue Chancen und Raum für Experimente und Nischen. Für die Zukunft Huttwils und um dieses Potenzial evaluieren, koordinieren und nutzen zu können, ist eine aktive Partizipation wichtig. Das im Rahmen des Forschungsmandats entwickelte Planungsformat «Städtliwerkstatt» bildet deshalb das Herzstück des künftigen Entwicklungsprozesses. Darin fungiert die Bevölkerung als Stadtmacherinnen und Stadtmacher. Mit dem Projekt wurden Handlungsoptionen in einem dafür eigens entwickelten neuen Planungsformat evaluiert und erste Massnahmen für einen Umgang mit dieser drohenden negativen Entwicklung eingeleitet. Kurzum geht es darum, aus einem Donut wieder einen Berliner zu machen: Die Füllung bestimmen die Huttwilerinnen und Huttwiler. Ideen gibt es viele, klar ist auch: Bis aus dem Donut ein Berliner wird, braucht es Zeit.

 

[1] Zentralität, Diversität, Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit, Aneignung sowie Interaktion

Infos zu Dencity und zur «Städtliwerkstatt»

Christine Seidler
Professorin für Urbanität und Mobilität