Wie ein Elektromobil entworfen wird

Gemeinsam mit Leser*innen aus der ganzen Schweiz entwickelten 23 Studierende der Automobil- und Fahrzeugtechnik der Berner Fachhochschule BFH in nur vier Tagen ein Konzept für ein Elektrofahrzeug.

In der Woche vom 3. bis 6. April 2023 stand bei den angehenden Automobil- und Fahrzeugingenieur*innen im zweiten Studienjahr ein besonderes Modul auf dem Studienplan: die Projektwoche «Urban Vehicle». In nur vier Tagen konzipierten die Studierenden ein kleines, elektrisch angetriebenes Fahrzeug, optimiert für den täglichen Pendlerverkehr. Nebst der fachlichen Unterstützung der Dozierenden und Expert*innen wurden bereits von Beginn an auch die potenziellen Kund*innen einbezogen. Mittels Onlineumfragen über die Medien der Tamedia-Gruppe wurden die Bedürfnisse der Schweizer Bevölkerung abgeholt, die dann direkt ins Projekt eigeflossen sind.

Die 23 Studierenden arbeiteten von Montag bis Mittwoch in fünf Teams an jeweils einem Konzept. Es gab drei 5er-Teams und zwei 4er-Teams.

Am Donnerstagmorgen wurden die Gruppen neu nach Kompetenzen zusammengestellt und arbeiteten gemeinsam am finalen Konzept. 

Konzepte 1 bis 5, E-Vector:  Die sportliche Form des Konzepts E-Vector fällt auf. Trotz einer Spurbreite von nur einem Meter soll sich das Fahrzeug dank einem Neigefahrgestell auch bei höheren Geschwindigkeiten sicher, das heisst ohne Kippgefahr, durch die Kurven lenken lassen. Gesteuert wird das Fahrzeug mit einem Joystick, damit trotz engen Platzverhältnissen im Cockpit ein grosszügiges Raumgefühl entsteht. Der sportliche Einstieg über das aufklappbare Dach erfüllt wohl nicht alle Komfortansprüche.

U-Way: Eine hohe Stirn und viel Glas für einen optimalen Überblick von Kopf bis Fuss, ein integrierter Einstiegstritt sowie viel Kopffreiheit ermöglichen trotz den kleinen Abmessungen einen unerwarteten Komfort. Zwei unabhängige Antriebsmotoren in den Vorderrädern sowie ein Schlepprad am Fahrzeugheck erlauben auch hier eine Manövrierfähigkeit auf engsten Raum. Der hohe Schwerpunkt und das agile Fahrwerk beschränken aber bei diesem Konzept die Maximalgeschwindigkeit auf 25 km/h.

Zap-T: Konsequent nach der Designregel «Die Form folgt der Funktion»: Das Team rund um Zap-T setzte die gewohnten Seitentüren, den komfortablen hohen Einstieg und einen einfach zugänglichen Kofferraum im Heck um. Trotz seiner schmalen Spurbreite soll das Fahrzeug sicher durch die Kurven fahren. Eine Sitz- und Lenkradheizung sorgt im Winter für ein angenehmes Klima beim Autofahren, trotz ungeheizter Kabine.  

E-Wheelz: Urbane Mobilität querdenken: Das Team E-Wheelz hat konventionelle Ansätze hinter sich gelassen und liess sich von der Zukunft inspirieren. So futuristisch dieses Konzept auch wirkt, grundsätzlich wäre ein solches Fahrzeug umsetzbar, wenn auch mit einigen Einschränkungen.  

«Evolution»: Das Team um das Konzept EVolution verfolgte einen konsequenten Ansatz einer innerstädtischen Mobilitätslösung. Durch die zwei parallelen Raupen bleibt für die Fahrgastzelle zwischen dem Antrieb viel Raum.

Das finale Konzept

Einige Erkenntnisse aus der Woche haben sich im zusammengeführten Konzept verdichtet.

So soll das für den Nah- und Pendelverkehr optimierte Fahrzeug eine Spurweite von nicht mehr als 1 Meter aufweisen. Damit sollen die Vorteile des reduzierten Platzanspruchs und die Gewährung des Verkehrsflusses auch bei reduzierter Geschwindigkeit erreicht werden. Die verbaute Batterie soll eine Reichweite von 80 Kilometer im Sommer und 40 Kilometer im Winter bei eingeschalteter Heizung von Sitz, Bedienelementen und Windschutzscheibe für bedarfsgerechte Wärme und klare Sicht ermöglichen. Der komfortable Fronteinstieg wurde aus dem U-Way-Konzept übernommen, das Neigefahrwerk aus den beiden Projekten der Teams EVector und ZAP-T. Auch soll der altbekannte «Reservekanister» wieder Einzug in den Elektroflitzer halten. Ein tragbarer und herausnehmbarer Zusatzakku soll nebst der fix integrierten Hauptbatterie eine Extrareichweite von bis zu 15 Kilometer ermöglichen. Allein mit diesen 15 Kilometer Reichweite lassen sich die statistisch erhobenen 75 Prozent aller täglichen Fahrten auch ohne Zugang zur Steckdose am Parkplatz ermöglichen.

Im Verlaufe des Projekts blieb allerdings der zweite Sitz auf der Strecke. Form und Grösse des finalen Konzepts liessen sich in Kombination mit den anderen Ansprüchen nicht damit vereinbaren. Hier dürfte jedoch noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Die Entwicklung des Fahrzeugs hat mit dieser Phase einen wichtigen Meilenstein erreicht, ist jedoch nicht abgeschlossen. Mehrere Runden der Anpassungen und Verbesserungen stehen uns im Entwicklungsprozess noch bevor.

Zum Schluss noch etwas zum umstrittenen Joystick, nicht nur bei der Leserschaft, sondern im gesamten Team – auch dieser hat den Einzug ins finale Konzept geschafft. Denn falls er halten kann, was er verspricht, dürfte er einen wesentlichen Beitrag zum Fahrspass und somit auch zu einer breiten Akzeptanz eines optimierten Nahverkehrsfahrzeugs beitragen. Ein nicht zu unterschätzendes Argument – denn nur auf der Basis der Vernunft lassen sich bekanntlich keine durchschlagenden Innovationen umsetzen.

Leserwunsch nach Komfort berücksichtigt

Bleibt die Frage: Wo liessen sich die Vorstellungen der Leserschaft berücksichtigen? «Nach Durchsicht der Umfrageresultate mussten wir uns eingestehen, dass bei diesem Alltagsfahrzeug für die Leser*innen Komfort mit grossem Abstand an erster Stelle stehen soll», sagt Projektleiter Peter Affolter. Er ist Professor für Fahrzeugelektronik an der BFH und leitet den Bereich Automobil- und Fahrzeugtechnik. Auch die selbstverständlichen Annehmlichkeiten wie USB-Ladebuchse, Mobiltelefon- und Getränkehalter sollten irgendwo im finalen Cockpit platziert werden können. «Dies und den Wunsch nach einer Heizung haben wir aufgenommen, sowie auch Stauraum für Gepäck. Auf aussergewöhnlichen Schnickschnack darf gemäss der Leserschaft dafür getrost verzichtet werden», ergänzt Affolter. Sportliche und aerodynamische Linien seien deshalb dem Komfortanspruch der Leser*innen «klar untergeordnet» worden.

Im Gegenzug haben sich die Student*innen laut Affolter jedoch die Freiheit herausgenommen, gewisse Wünsche der Leserschaft kritisch zu hinterfragen und Neuland zu betreten. So geschehen beim Lenkrad, das sich eine Mehrheit der Leser*innen wünschte. Diese Art der Steuerung wurde im endgültigen Konzept zugunsten des Joysticks verworfen. «Ein Steuerrad nimmt einen beträchtlichen Raum im Cockpit ein, schmälert damit die Zugänglichkeit zum Fahrersitz und verringert das Raumgefühl beträchtlich», begründet Affolter den Entscheid.

Auch beim Leserwunsch der Maximalgeschwindigkeit haben die angehenden Ingenieur*innen gute Argumente für eine Abweichung. «Eine Reduktion der Geschwindigkeit auf 45 Kilometer pro Stunde erlaubt die Immatrikulation des Fahrzeugs in einer niedrigeren Fahrzeugkategorie, womit dieses Fahrzeug auch ohne Autofahrausweis gefahren werden kann und damit zusätzlich auch für Menschen mit Einschränkungen zugänglich wird», erklärt Affolter.

Fest steht bereits, dass gewisse Ansätze aus dem Projekt mit der Entwicklung von Funktionsmustern und Prototypen im Rahmen von Projekt- und Diplomarbeiten weiterverfolgt werden. Dazu gehören etwa eine verbesserte Heizung für Leichtbaufahrzeuge und die Fahrzeuglenkung mit Joystick. Aktuell prüft die BFH die Realisierung eines Prototyps und würde sich freuen, dazu mit Interessent*innen und potenziellen Partner*innen ins Gespräch zu kommen.

Text entstanden mit Material des «Tages-Anzeigers».

Peter Affolter
Leiter Automobiltechnik, BFH